Der Schneemann

 

19.02.2001

Die Vorstadt arbeitete in ihm. Er zog seine Schritte immer weiter um den Bahnhof hin. Die Chancen, dass er sich auf dem Rückweg daran erinnern könnte, wo er hier wieder weg kommen könnte, waren gering. Wenn er einen Karte gehabt hätte, würde er Lingen nicht mal darauf zeigen können. Also vorwärts. Einen Abgrund sah er nicht, warum also anhalten? Was sich in seinem Schädel nicht mit der Außentemperatur oder ihren Auswirkungen auf seinen ausgelaugten Körper beschäftigte, fand keinen Grund, umzukehren. Wohin auch. Man kann so eine Suche nicht machen, wenn man wieder dahin zurück will, woher man kam. Aber das wollte Bruno natürlich auch nicht. Das war kein Ausflug für ihn, auf dem man den Rucksack leer fraß und am Ende wieder ins Auto stieg und heim fuhr. Wenn er das nur selber gewusst hätte.

Er stand auf dem Rasen und starrte in den Himmel.

Die Sterne waren hinter dem unendlichen Gewusel der Schneeflocken verborgen. Der Blick wurde von ihnen irritiert, man sah vor lauter weißen Teilchen, die durch das Blickfeld flimmerten, das Leuchten der fixen Lichter hinter ihnen nicht mehr. Wenn man in solchen Nächten das erste Mal erklärt bekommt, dass dort oben Sterne sind, denkt man womöglich, sie bewegen sich wie Flocken oder Regen und irgendeine geheimnisvolle Kraft verhindert, dass sie herunter fallen. Sie müssten wie Schneeflocken-Maschinen wirken, die uns unablässig bombardieren, bis wir unter ihrem gesammelten Gewicht zusammen brechen. Bruno dachte an Stoffel. Wenn er gekonnt hätte, würde er sich hinlegen und dem Treiben über ihm zusehen, bis er vom Schnee ganz eingedeckt wäre. Die Schönheit des weißen faszinierte ihn. Jemand machte sich die Mühe, die große Fläche über ihm, den ganzen Raum mit Tupfen zu dekorieren. Es schien ihm unendliche Mühe, die er nur bewundern konnte. Man müsste überall gleichzeitig sein, um so etwas vollständiges zu schaffen. Selbst über einer kleinen Stadt schien das mehr zu sein, als man bewältigen konnte. Das war schon mehr als ein paar bewundernde Blicke wert. Unmerklich nickt er. Ja, das war was; er wünschte, er könnte das auch. Nur für einen Moment.

Eine Formation der kleinen weißen Dinger flog über ihn hinweg auf das Haus hin. Ihr Flugbahn lenkte seinen Blick in Richtung Haus, die Flocken wurden vergessen. Das kleine viereckige Ding an der Hauswand, lächelte ihm immer noch mit einem freundlichen Zwinkern zu und übertünchte das Flimmern. Die Zeichnung auf der Oberfläche hob sich undeutlich von dem Licht aus dem Innern ab. Er konnte nicht genau erkennen, was sie sagte, aber Sekunden später fand er es in seinem Denken wieder, es kitzelte drinnen schimmernd weiter. Wenn der Schnee ein Kunstwerk war, bedeutete die seltsame Lampe das Detail, an das man sich noch lange erinnern wird, auch wenn man das Museum schon verlassen hat. Für so was brauchte man keinen Katalog und keine Dauerkarte. Das war echt.

Der Eindruck war so stark, dass er das erst Mal seit einiger Zeit wieder alles um ihn herum vergaß. Genau genommen vergaß er in jenem Moment sogar, warum und vor allem wie er es schaffte, seinen steif-gewordenen Körper wieder in Bewegung zu setzten. Es musste wohl so was wie ein Reflex oder Gewohnheit gewesen sein, aber es ging wieder los. Denken hindert dabei wahrscheinlich nur und wenn man das erst mal hinter sich gelassen hat, geht alles wie von selbst.

Der Rasen, auf dem er sich befand, war nicht wirklich groß. Insgesamt maß er eine Fläche von vielleicht drei mal sechs Metern, aber sie lagen fast quer vor ihm, sodass er nur wenige Meter zu gehen hatte, um von der Strasse zum Haus zu kommen. Abzüglich der Entfernung, die er beim Sturz zurückgelegt hatte und ein wenige Raum, den er beim Herumstampfen und -lamentieren gewonnen hatte, blieben fast nur ein paar wenige Schritte übrig, um zum Ziel zu gelangen. In seinem Inneren wirbelte noch der Eindruck des Lichtes herum und sorgte für Reibungswärme, wie sie sich durch die anderen Gedanken durchboxte. Es war schön, wieder erwacht zu sein und etwas vor Augen zu haben. Und das Ziel lächelte ihn auch noch an dabei.

Bruno lächelte zurück. Auch mit Zeichen sollte man sich gut stellen. Eine Selbstverständlichkeit ist heutzutage allenfalls umschlagendes Wetter. Und das Lächeln ging unerwartet gut, wenn man den Zustand seiner Gesichtsmuskeln bedachte. Die Verbindung zwischen seinem Lächeln und dem freundlichen Zurückzwinkern des Zeichens erfüllte ihn erneut. So konnte es bleiben. Er drehte seinen Kopf herum so gut es ging und versuchte noch einmal, den Eindruck seiner Umgebung in sich auf zu nehmen. Die Flockenschauer in der Dunkelheit, das fade Licht der Strassenlaterne hinter ihm, die Spuren um die Pfützen herum, das Haus mit seinem weißen Dach und der Tür, die ebenso weiß in die Hauswand gepflanzt worden war. Ein Eingang. Die Eindrücke waren warm. Es prickelte in seinem Körper, die Muskeln fanden ihre Empfindsamkeit wieder und er spürte, wie der Druck, den die Kälte auf die Muskeln gelegt hatte, nachließ. Übermütig wippte er mit den Beinen in einem Takt, der ihm gerade einfiel. Sein Oberkörper ließ sich davon nicht zweimal bitten und folgte unauffällig. Er hätte tanzen können, wenn er nicht heimlich damit schon angefangen hätte. Das leise Gemurmel eine Melodie lag ihm auf den Lippen. Es hätte niemand hören können, es sei denn, man wäre ihm bis auf ein paar Zentimeter nah gewesen und dann wäre es wohl zu Zusammenstößen gekommen, weil Bruno langsam und bedächtig zu seiner Melodie umhertapste, als sei er sich nicht sicher, ob man schon tanzen dürfte oder ob das nur seine Langeweile für die Gespräche mit seinem Gegenüber zeigt. Er hätte sogar klassisch althergebracht geschwooft, wäre jemand zum schwoofen da gewesen.

Ob das winzige Tanzen auf dem Rasen vor dem Haus etwas damit zu tun hatte, wird man nie so genau erfahren. Aber es ist eher unwahrscheinlich, dass eine kleine, wenn auch eine rundliche und mit festgepapptem Schnee auf seinen umfangreichen Kleidungsstücken beladene Gestalt mit vorsichtigen Wiegeschritten eine Dachlawine auslösen kann. Vermutlich hat der schallende Wind, der durch die freistehenden Häuser ging ordentlich mitgeholfen oder die Last des immer weiter und weiter fallenden Schnees hat irgendwann zu viel Material für eine anständige Schwerkraft-Aktion zusammengehabt.

Vom Dach des Hauses ging mit einem Mal ein ganzes Pfuder weiße Masse, halb zusammengeklebt in einem Stück, halb aufstaubend in die Luft, auf den Rasen vor dem Haus, auf den Weg durch den Rasen, auf die Treppe zur Haustür und auf Bruno runter. Alles war vollkommen bedeckt. Es war, als hätte einer der Schneelaster, die den Schnee für künstliches Skipisten zu Wettkämpfen bringen, wenn nicht genug örtliches Material da ist, sich verirrt und seine Ladung im Vorgarten dieses Hause abgeworfen. Ein großer Haufen, ein ordentlicher Schneeberg gab dem Hause eine gute Gelegenheit, sich hinter ihm zu verstecken. Die Tür und einen guten Teil der Fenster im Erdgeschoss konnte man kaum noch erkennen, sie lugten über die Spitze des Hauses schalkhaft hinweg und grinsten zur Strasse hinüber. Zweifellos der Höhepunkt einer eher unspektakulären Nacht in einer verschlafenen Strasse in einer kleinen Stadt.

Zweifellos der Höhepunkt einer erst höhnischen, dann fast verzweifelten, dann schmerzhaften aber immer ziemlich kalten Nacht, die sich gerade entschlossen zu haben schien, sich zum besseren für Bruno zu wenden.

Der Schneehaufen lag seelenruhig vor dem Haus. Das Licht der Lampe lag hinter seinem Rücken und war von der Strasse aus nicht mehr zu sehen. Die Geräusche, die die Lawine beim Herunterfallen gemacht hatten, das schhhhhhhh und das dumpfe bommm des Aufklatschen auf dem Boden, waren verhallt und niemand schien sie bemerkt zu haben (außer Bruno und der lag streng genommen genau da, wo das bommm her kam). Was an Schnee aufgewirbelt worden war, hatte sich einen neuen Platz gesucht und es fiel nur der übliche Schnee vom Himmel. Seltsam, wie sich die ungeheure Wucht mehrerer hundert Kilo herunterfallenden Schnees in die nahezu vollständige Stille verwandeln können, die hier herrschte. Ein Auto fuhr ein paar Minuten später vorbei und die müden Gesichter im Innern drehten sich zu dem Schneehaufen und uninteressiert wieder weg. Sie waren zu müde, um sich zu wundern, wo das alles herkam.

Wenige Minuten später, gab es nach dem Auto noch eine andere Bewegung. Der massige Schneehaufen in seiner dahingeworfenen Ruhe und stoischen Entschlossenheit musste mit ansehen, wie an eine Seite die Außenhülle von innen bearbeitet wurde. Normalerweise sollte man annehmen, wenn einem so viel Schnee in einem einzigen Augenblick auf den Kopf fällt, sollte das für eine Bewußtlosigkeit ausreichen. Bruno war da offenbar anderer Ansicht. Wohl aus der Abwandelung der Bewegungen, die er beim Tanzen vollführte, hatte er sich das schhhhh des rutschenden Schnees zum Anlass genommen, um sich auf den Boden zu werfen und seine Arme über dem Kopf zu verschränken. Warum man sowas macht, weiß man nachher wohl meist nicht mehr. Man ist nur froh, dass einem das nicht gelegentlich in der Fussgängerzone passiert. In diesem Fall war es Bruno's Glück, denn er konnte nach einer kurzen Verschnaufpause im Innern des Massivs anfangen, sich herauszuarbeiten. Das ging leichter als gedacht, denn trotz der Fülle des Schnees, die den Berg bildete, waren es von seiner Mitte bis zur äußeren Kante nicht mal ein Meter. Also eine Schneemenge, die man durchaus bewegen kann, wenn man sich ein bischen anstrengt.

Dann stand er draußen und schüttelte den Kopf. Er klopfte den Schnee von seinem Mantel, stampfte seine Hosen sauber und sah sich nochmal um. Außer dem Ding vor ihm hatte sich nichts verändert. Die Strasse lag im Halbdunkel der Strassenlaternen, der Himmel war immer noch voll fallendem Schnee. Er schüttelte wieder den Kopf. Er legte seinen Kopf schräg und betrachtete die Sache von dem Standpunkt aus. Er schüttelte ihn nochmal. Verrückt. Wenn man bedachte, wie es ihn hier her verschlagen hatte, wo er überall gewesens war, was er sich alles anhören musste (und das meiste davon ist hier nicht mal erzählt). Und das nur, um sich vor einem völlig fremden Haus von einem Haufen Schnee überschütten zu lassen. Da konnte man schon mit dem Kopf schütteln. Einen Impuls folgend drehte er sich um und begann langsam durch den Schnee in Richtung Strasse zu stapfen. Er hatte so gut wie vergessen, warum er her gekommen war. Die Lampe, die ihn daran hätte erinnern können, war verschüttet, und es störte ihn auch nicht. Auf dem Weg unter der Laterne durch schüttelte er noch ein paar Mal den Kopf. Die Kaputze verbarg sein Gesicht wieder, schließlich war es immer noch Winter, aber es gab ein freudiges Gesicht darunter. Bruno freute sich, dass er von einem Haufen Schnee überschüttet worden war. Er wollte versuchen, einen Weg zurück zum Bahnhof zu finden, um einen Bus zurück nehmen zu können. Vielleicht traf er Stoffel, dem konnte er dann davon erzählen.

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